„Hab keine Angst, erzähl alles!“ – Ein Interview mit Esther Dischereit über ihr neues Buch zum Anschlag von Halle.
Am 9. Oktober 2021 jährt sich der antisemitische und rassistische Anschlag von Halle zum zweiten Mal. Am 9. Oktober 2019 versuchte der Attentäter an Jom Kippur, dem höchsten jüdischen Feiertag, mit Gewalt in die Hallenser Synagoge einzudringen, um die dort versammelten Personen zu töten. Nachdem ihm dies nicht gelang, erschoss er eine Passantin und griff anschließend den Imbiss „Kiez-Döner“ an, wo er eine weitere Person ermordete. Während des Prozesses, der vom 21. Juli bis zum 21. Dezember 2020 vor dem Landgericht Magdeburg stattfand, meldeten sich zahlreiche Überlebende und Angehörige und ihre Anwält*innen zu Wort.
Esther Dischereit hat viele dieser eindringlichen Texte und Reden in dem Buch „Hab keine Angst, erzähl alles!“ versammelt. Aus Anlass des Erscheinens des Buches sprachen wir mit der Herausgeberin. Das Interview führten Stella Shcherbatova, Beraterin für von Antisemitismus Betroffene bei der Fachstelle m² im NS-Dokumentationszentrum und Mitglied der Synagogen-Gemeinde Köln sowie Hans-Peter Killguss, Leiter der Info- und Bildungsstelle gegen Rechtsextremismus im NS-Dokumentationszentrum.
Shcherbatova: Auch wenn der Titel Ihres Buches lautet „Hab KEINE Angst“, so ist dieses Schlagwort doch sehr präsent für mich. Auf der anderen Seite macht die Aufforderung „erzähl alles!“ auch Hoffnung. Es ist ein Appell an die Opfer, nicht schweigen zu müssen.
Dischereit: Der Titel ist eine Aussage der Großmutter der Berliner Rabbinerin Rebecca Blady, die sie vor Gericht zitiert hat. Blady, eine Überlebende des Anschlags, hatte den Besuch der Berliner Gruppe mitorganisiert, die zu Jom Kippur in die Synagoge nach Halle wollte. Bevor sie vor Gericht im September 2020 aussagte, hatte Blady ihre über 90-jährige Großmutter in New York angerufen. Sie ist Überlebende des KZ Auschwitz und hatte niemals die Möglichkeit gehabt, vor einem deutschen oder internationalen Gericht auszusagen, ihre Geschichte zu erzählen oder die Täter anzuklagen. Und so autorisierte sie ihre Enkelin ausdrücklich, ihre Geschichte, die Geschichte der Trennung von ihrer Mutter an der Rampe durch den KZ-Arzt Josef Mengele, vor dem Gericht in Magdeburg zu erzählen. Ihre Großmutter bat sie: „Hab keine Angst, erzähl alles!“ Und das hat Rebecca Blady getan.
Sie hat das einerseits gemacht mit dem Auftrag, das zu tun, was ihrer Großmutter verwehrt geblieben war und sie hat es auch gemacht, damit deutlich wurde, dass der Anschlag von Halle im Jahr 2019 in den jüdischen Familien die Erinnerung an die Shoah wieder auf den Tisch gelegt hat. Dinge, die in den Familien manchmal sehr absichtsvoll beschwiegen wurden, um die Kinder und Enkelkinder zu schützen. Und so hatte es eine ganz besondere Bedeutung, dass Rebbeca Blady ihre Aussage mit der Geschichte ihrer Großmutter begann.
Shcherbatova: Und für Blady war der versuchte Massenmord von Halle ja auch eine Geschichte der Trennung …
Dischereit: Ja, ihr Kind war bei diesem Besuch mit dabei. Es hatte die Synagoge mit einer Babysitterin schon verlassen, weil der lange Gottesdienst zu anstrengend für das Kind gewesen wäre. Das Kind war also draußen, während die Leute drinnen Schüsse hörten. Und auch danach mussten die Besucher*innen in der Synagoge ausharren und den Anweisungen der Polizei folgen. Die Eltern blieben lange in Ungewissheit, ob das Kind und die Babysitterin dem Attentäter womöglich in die Arme gelaufen waren. Die Polizei hat nicht verstanden, wie wichtig es für die Familie war, ihr Kind in die Arme schließen zu können. Das musste erst durchgesetzt werden. In diesem Vorgang wurde das gesamte Verfolgungstrauma wieder aktiviert.
Das also ist der Hintergrund dieses Titels und ich habe ihn gewählt, weil es mir ein Anliegen war, dass durch die Geschichte derer, die den Anschlag von Halle überlebt haben hindurch die Würdigung derer geschieht, die vor uns waren und ihre Geschichte nicht erzählen konnten. Und es ist sicherlich auch der richtige Titel für die Überlebenden des „Kiez-Döners“, der ja aus islamophoben Hintergründen angegriffen wurde. Ich denke, sie fühlen sich darin auch aufgehoben.
Shcherbatova: Im Klappentext heißt es ja auch, dass viele Betroffene in den Texten ihrem Schmerz und ihrem Zorn Ausdruck verleihen.
Dischereit: Schmerz ja, manche Menschen formulierten Wut. Ich selber weiß jedoch nicht, ob Zorn oder Wut überhaupt passen können für dieses Geschehen. Da tritt jemand an, der Menschen ihr Menschsein aus antisemitischen, rassistischen und misogynen Motiven heraus abspricht und es nicht bereut. Ein Täter, der sich mit seinen Äußerungen und seiner Tat an einer Stelle positioniert, die vollständig außerhalb des Konsenses ist, wie wir miteinander leben wollen. Im Grunde fehlt mir noch immer die Sprache, das zu beschreiben. Der Täter bewegte sich vor dem Hintergrund von White Supremacy, einer kruden und militanten Auslöschungsideologie, die gleichzeitig eine reale Bewegung darstellt. Ich möchte an dieser Stelle darauf hinweisen, wie wichtig es ist, dass die Gefahr dieser Strömung deutlich erkannt, sie verfolgt und bestraft wird. Es gibt einen Überlebenden, Conrad Rößler, der formulierte an die Adresse des Attentäters: „Du hast das Recht zu leben. Nur nicht mehr mit uns“. Das finde ich auch sehr beeindruckend. Conrad Rößler war nicht in der Lage, am Prozess teilzunehmen, das konnte er nicht verkraften. Aber diese Worte hatte er seinem Nebenklagevertreter mitgegeben.
Killguss: Schon in den Medienberichten über den Prozess bekam man einen Eindruck davon, welche Kraft und welchen Mut die Überlebendenden vor dem Gericht gehabt haben müssen. Es ist sicher ein sehr belastender oder ein retraumatisierender Moment, dort anwesend zu sein und die Aussagen des Täters mitzubekommen. Wie haben Sie das erlebt und wie ist das in das Buch eingeflossen?
Dischereit: Das ist eine sehr richtige Beobachtung. Die von dem Anschlag Betroffenen haben sehr großen Wert darauf gelegt, zurückzuweisen, dass sie sich ausschließlich in einer Opferrolle befinden müssten. Sie waren ausgesprochen rede- und handlungsmächtig und haben über dieses aktive Teilnehmen an dem Prozess – ob durch Statements, die sie den Nebenklagevertreter*innen mitgegeben haben oder persönlich – sich selbst als Menschen gesetzt, die ihre Angelegenheit in die eigene Hand nehmen können und wollen. Und in diesem Sich-aussetzen-können der Situation, so belastend sie auch ist, finden sie auch gleichzeitig die Kraft, sie zu überwinden.
Das hat ganz unterschiedliche Formen angenommen. Ein ganz wichtiges Moment ist es geworden, dass es den Betroffenen selbst möglich war, sich zusammenzuschließen. Sie haben sich untereinander darin bestärkt, das Wort zu ergreifen. Die Menschen im „Kiez-Döner“, wo der Täter „Nahöstler“ vermutete, die er auslöschen wollte, die Leute in der Synagoge, und auch die Leute, die der Täter auf seiner Flucht in Wiedersdorf verletzte; diese alle versuchten nach Kräften, eine gemeinsame Stimme zu finden.
Eine bedeutende Rolle spielten dabei die Nebenklagevertreter*innen. Ihnen ist es gelungen, eine Art „Schirm“ über den Betroffenen aufzuspannen, was diese ermutigte zu sprechen. Darin haben sie ihre Kraft gefunden. Nicht nur dem Attentäter gegenüber treten zu können, sondern auch klare Botschaften formulieren zu können, die sich an die Gesellschaft richten: gegen Antisemitismus und Rassismus, gegen jede Form von Ausgrenzung. Eine überlebende Person, Sabrina Slipchenko, formulierte den Satz: „Ich bin nicht in erster Linie Jüdin. Wir sind Menschen, die auch Jüdinnen sind, die auch queer sind, die auch Linke sind.“ Sie hat in diesem Sinne versucht, Menschen, die aus unterschiedlichen Gründen von rechtsextremer Ideologie betroffen sind, als eine Position anzusprechen.
Killguss: Sie haben in ihrem Buch viele Texte aus dem Prozess zusammengetragen. Haben Sie als Lyrikerin, Erzählerin und Autorin mit Ihrem Buch als Dokumentarin agiert?
Dischereit: Es ist kein Buch, das die vielen intellektuellen und politischen Stimmen versammelt, die ja auch zu Halle zu hören waren. Es versammelt ausgewählte Plädoyers der Nebenkläger*innen und Beiträge von Sachverständigen zum Prozess. Aber es ist in erster Linie ein Buch, das die Funktion haben soll, das Zeugnis der Betroffenen vor Gericht zugänglich zu machen und zu bewahren. Also die Stimmen derer, die gesprochen haben. Das war für mich auch das entscheidende Motiv. Ein Betroffener, Ezra Waxman hat im Gerichtssaal die Befragung des Täters selbst durchgeführt. Für ihn war das wichtig. Er stand auf und fragte dem Sinn nach ungefähr folgendes: „Was hast du dir gedacht, als du mich töten wolltest? Ich bin ein jüdischer Mensch, was stört dich daran? Sag es.“ Das hat Ezra Waxman ausgehalten.
Mit seinem Auftritt vor Gericht bezeugte auch er eine Art Ehrerbietung gegenüber seinen überlebenden Großeltern, insbesondere würdigte er seine Großmutter. Er sang das Lied, das seine Großmutter täglich sang, um gesund zu bleiben. In jiddischer Sprache, es stammt aus dem Musical „Fiddler on the Roof“. Das gesungene Lied war eine besondere Form der Anteilnahme und auch der Selbstbehauptung. Der Text ist in dem Buch abgedruckt. Es spielt überhaupt keine Rolle, dass das jiddische Lied, ein Trinklied übrigens, kein politischer Text ist. Die Gegenwart des Jiddischen im Gerichtsaal selbst ist das Statement. Deswegen habe ich das auch aufgenommen.
Killguss: Mit „Blumen für Otello“ haben Sie ja auch ein Buch zur Auseinandersetzung mit dem NSU veröffentlicht. Was war für Sie der Unterschied zwischen dem NSU- und dem „Halle-Prozess“?
Dischereit: Um bei der soeben erwähnten Episode zu bleiben: Im Gericht wurde jiddisch gesprochen! Und niemand konnte Ezra Waxman daran hindern und sagen, das dauert mir zu lange, das ist nicht verfahrensrelevant. Das haben Betroffene immer wieder erlebt. Im Stutthof-Prozess, da versuchte das Gericht zu sagen, man möchte doch bitte das Verfahren abkürzen, die Geschichten der Überlebenden würden sich ja wiederholen. Das ist doch unglaublich.
Onur Özata, ein Vertreter der Nebenklage, betonte, dass diese Menschen, denen jahrzehntelang niemand zugehört hat, nun nicht darauf verzichten würden, ihre Geschichte zu erzählen. Das war das Besondere an dem Prozess in Magdeburg. Durch die Richterin Ursula Mertens war deutlich geworden, dass dieses Gericht das Sprechen der Zeug*innen nicht beschränken würde. Das hat eine ganz große Rolle dafür gespielt, dass sich die Betroffenen untereinander verbündet haben. Die jüdischen Überlebenden haben deutlich gemacht, dass sie an der Seite der rassistisch Betroffenen stehen. Dass sie unbedingt wollen, dass auch für diese gilt, dass sie vor Gericht gehört werden. Aus dem NSU-Verfahren wissen wir leider, wie sehr Gegenwart und Aussagekraft der Betroffenen beschnitten werden können.
Für die Betroffenen ist es schwer zu ertragen, dass in deutschen Gerichtsverfahren zunächst einmal der Angeklagte das Wort hat. Das ist in Neuseeland ganz anders gehandhabt worden. Dort hatten beim Prozess wegen des Terroranschlags von Christchurch Betroffene auch das letzte Wort. Wird ein Strafprozess nicht in erster Linie darum geführt, dass die Betroffenen zu Wort und zu ihrem Recht kommen? Oder wird er für irgendeine abstrakte Gerechtigkeit geführt? Wenn er in erster Linie für die Betroffenen geführt würde, müßten sie auch dort ihren Platz und auch ihre Stimme haben, und zwar ganz selbstverständlich. Das muss ein Verfahren nicht verzögern. Im Gegenteil, es dient ja der Wahrheitsfindung. Von der Bedeutung der Worte der Betroffenen war im NSU-Verfahren noch nichts zu spüren – in Magdeburg hingegen schon.
Killguss: Aber im NSU-Prozess hat die Nebenklage doch auch schon die Bedeutung der Perspektiven von Betroffenen deutlich gemacht …
Dischereit: Es war den Vertreter*innen der Nebenklage im Halle-Prozess immer klar, dass dieses Verfahren eine Signalwirkung für die Gesellschaft würde haben können. Die Zeug*innen sagten ja selbst, es ist nicht alles gut und vorüber, wenn wir hier einen Einzeltäter anklagen. Sie wollten, dass die gesamtgesellschaftlichen Hintergründe der Tat beleuchtet werden. Die Gutachten der Sachverständigen, die darauf spezialisiert waren, zum Beispiel White Supremacy-Aktivitäten im darknet zu untersuchen, mussten aber erst von der Nebenklage eingeführt werden. Das BKA hat eine entsprechende Expertise absolut vermissen lassen. Die Aussagen, die von dieser Seite kamen, waren eher kontraproduktiv, denn sie leugneten geradezu, dass es einen Zusammenhang zwischen den Anschlägen von Christchurch, Pittsburgh, Utøya und Halle geben könnte. Obwohl der Täter selbst sich darauf bezogen hat. Bei der Ausermittlung seines familiären Umfelds, seines Wohnumfelds und seines ideologischen Umfelds kann man nicht sagen, dass da mit besonderem Eifer vorgegangen worden wäre. Diese Problematik hat es im NSU-Verfahren auch schon gegeben. Ich glaube, die Nebenklage hat aus dem NSU-Verfahren gelernt, wie rabiat und rüde die Betroffenen vom Verfahren abgeschnitten werden können, sodass sie quasi in die Rolle von Statisten ihrer eigenen Anliegen gedrängt werden.
Die Tatsache, dass von diesem Anschlag in Halle jüdische Menschen betroffen waren, hat in ganz anderer Weise Politiker*innen mobilisiert als es zunächst bei den NSU-Verbrechen der Fall war. Das Versprechen einer „rückhaltlosen Aufklärung“ hat sich nicht erfüllt. Und auch sonst standen die Politiker*innen nicht immer hinter den Betroffenen. In Halle war das anders. Durch die Bewältigungsdiskurse, die es in Deutschland verstärkt seit Mitte der 1980er-Jahre gibt, ist die Betroffenheit der jüdischen Community in anderer Weise auf einer bestimmten staatlichen Ebene hervorgehoben. Die jüdischen Menschen in Halle waren sich dessen sehr bewusst und haben daher ihrerseits hervorgehoben, dass sie genauso an der Seite der rassistisch betroffenen Menschen stehen wollen. An die Gesellschaft und an die Adresse der Ermittlungsbehörden wurde ganz klar die Botschaft vermittelt: Wir verlangen, dass gegenüber diesen rechtsextremen Netzwerken Aufmerksamkeit geschaffen wird. Und wir richten uns auch an die sogenannte Mitte. Der Attentäter wähnte sich ja als Vollstrecker eines vermeintlichen Mehrheitswillens, als Vollstrecker dessen, was andere denken oder sagen und er tut es.
All diese Dinge wurden im Verfahren auf den Tisch gelegt. Die Nebenklage hat deutlich formuliert, dass es hier nicht nur um das Rechtsprechen geht, sondern auch um eine politische Signalwirkung.
Killguss: Welche Unterstützung gab es für die Betroffenen?
Dischereit: Es war wichtig, dass die Überlebenden die Kraft fanden, laut zu werden. Auch in ihrer Kritik daran, wie sie nach dem Anschlag behandelt wurden, z.B. von der Polizei. Da spielte es eine Rolle, dass über den gesamten Prozessverlauf hinweg zivilgesellschaftliche Gruppen da waren – auch außerhalb des Gerichtssaals. Die „drinnen“ waren niemals nicht-verbunden mit denen „draußen“. Und sie hatten zu jeder Zeit die Möglichkeit, eine Öffentlichkeit zu erreichen oder sich auch zurückzuziehen. Sie waren also umgeben von empathischen Menschen, die mit ihnen sein wollten. Das Wissen darum, dass es da draußen Menschen kümmert, was drinnen passiert, hat sehr zur Ermutigung beigetragen.
Max Privorozki, der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde zu Halle und ebenfalls Überlebender, sagte im Frühjahr 2020 in einem Interview mit dem „Verband der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt“ (VBRG), dass ihn nach dem Anschlag am meisten bewegt habe, dass über 2000 Menschen am darauffolgenden Schabbes vor der Synagoge gestanden hatten. „Das hätte ich niemals gedacht“, sagte er. „Sie standen zum Schutz da und aus Solidarität“. Das hat ihm und den anderen Menschen sehr viel Kraft gegeben, und auch um zu sagen: „Das ist unser Platz, das sind die Menschen, die mit uns sein wollen“.
Ganz unverständlich ist mir, dass das Anschlagsgeschehen auf den „Kiez-Döner“ in bezug auf Ismet Tekin nicht als Mordanschlag gewertet wurde. Ismet Tekin, der zusammen mit seinem Bruder Rıfat Tekin der Betreiber ist – Rıfat Tekin war zum Zeitpunkt des Angriffs in dem Imbiss, sagt: „Dass wir jetzt Hilfe haben, dass wir von der Opferberatung unterstützt werden, dass so viele Menschen kommen und solidarisch sind, das ermutigt uns sehr. Das gibt uns die Kraft weiterzumachen.“ Die jüdische Studierendenunion brachte einen Scheck über 30.000 Euro. Ismet Tekin und sein Bruder bauen den Imbiss jetzt zu einem Frühstückcafé um. Auch das ist ein ganz wichtiges Moment, wie die Zivilgesellschaft weiterhin an der Seite der Leute ist.
Shcherbatova: Uns, der jüdischen Community, wird ja manchmal vorgeworfen, dass wir uns mit zu vielen Sicherheitsvorkehrungen ausgrenzen würden. Fälle wie Halle zeigen, dass dies nicht unser Wunsch ist, sondern dass Schutzmaßnahmen leider noch nötig sind.
Dischereit: Die Überlebenden kritisieren direkt, dass es gegenüber der Synagoge in Halle kein Sicherheitskonzept gegeben habe. Niemand ist froh darüber, dass jüdische Gemeinden bewacht werden müssen.
Shcherbatova: Trägt Ihr Buch dazu bei, die jüdische Community auf antisemitische Gewalt vorzubereiten?
Dischereit: Im Allgemeinen hat der Anschlag natürlich eine große Verunsicherung in die jüdischen Communities gebracht. Aber das, was die Überlebenden gemacht haben, kann auf der anderen Seite auch sehr stärkend wirken. Sie haben sehr deutlich gemacht, dass sie da sind als jüdische Menschen und dass sie „stehen bleiben“. Sie haben sich selbst in besonderer Weise sichtbar und hörbar gemacht. Auch dadurch, dass sie die Zeugnisse ihrer Erlebnisse zur Veröffentlichung gaben. Das Jüdisch-Sein selbst wurde von ihnen direkt als Quelle der Kraft in die Sichtbarkeit der Mehrheitsgesellschaft gebracht. Es ist durchaus etwas Ungewöhnliches, den Glauben als Demonstration zu verstehen. Dabei haben sie auch einen Appell an die Mehrheitsgesellschaft gerichtet: in diesem Zusammenhang mehr Widerspruch, mehr klare Worte gegen Spaltung, Antisemitismus und Rassismus zu praktizieren.
Shcherbatova: Was muss eine Gesellschaft nach solchen Taten tun?
Dischereit: Viele Formen von Solidarität aus der Zivilgesellschaft habe ich schon zuvor angesprochen. Aber staatlicherseits betrifft das auch eine materielle Seite, nämlich die Bildung von Opferfonds. Nur wer konsequent leugnet, dass Rechtsextremismus ein Problem darstellt, braucht keine Opferfonds. Auch die Betroffenen des Oktoberfestattentats 1980 hatten das schon spüren müssen. Und jetzt, nach Halle? Was konnte den wirtschaftlich in Not geratenen Brüdern Tekin in Halle gegeben werden? Gute Worte vom Oberbürgermeister, gute Worte von der Bundesregierung? Die jüdische Studierendenunion sammelt 30.000 Euro und im Opferfonds ist nichts? Das geht nicht. Die Verletzten des Anschlags, z.B. die Verletzten von Wiedersdorf, müssen sich in diesem Antragsdschungel zurecht finden und der betrifft jede Kleinigkeit ihres Lebens. Wo ist hier die Begleitung, die diesen Leuten beiseite steht? Das muss unbedingt geändert werden. Das kann nicht von einer Opferberatung alleine gestemmt werden.
Dazu müssen auch diese Anschläge und Übergriffe erst mal gezählt werden. Das machen Sie beispielsweise mit Ihrer Stelle. Und das machen engagierte Journalist*innen. Einrichtungen der Zivilgesellschaft müssen dauerhaft unterstützt werden, damit wir ein klareres Bild bekommen. Und sie müssen unterstützt werden, damit die Betroffenen dauerhafte Ansprechpartner*innen haben. Und es fehlt natürlich auch an Bildung. Da ist an vielen Ecken noch viel zu tun.
Shcherbatova: Was können wir als Jüdinnen und Juden tun, um unsere Kinder auf solche Fälle wie Halle vorzubereiten? Damit sie weiter ohne Angst in dieser Gesellschaft, in unserer Gesellschaft leben können?
Dischereit: Ich kann darauf nicht mit den Beiträgen aus dem Buch, sondern nur persönlich antworten. Einerseits haben die Betroffenen selbst demonstriert, wie man in diesem Zusammen, in diesem Wir und in diesem Sprechen seine Stärke finden kann. Ezra Waxman sagte: „Wir beten weiter“. Darüber hinaus gibt es verschiedene Aktivitäten, beispielsweise das von der jüdischen Initiative „Base Berlin“ organisierte „Festival of Resilience“. Der Freundeskreis im Gedenken an die rassistischen Brandanschläge von Mölln 1992, damals wurden drei Menschen von Neonazis ermordet, dieser Freundeskreis war da, Leute aus Hanau waren da usw. Und darum geht es: Plätze zu schaffen, Ereignisse zu schaffen, wo man sich seiner selbst, aber auch der anderen gewahr wird.
Ich beobachte, wie sich das für die Generation meiner Kinder darstellt. Sie sind dabei in Formen der Kunst, in Formen des Gebets und in Formen der Gespräche mit der Mehrheitsgesellschaft deutlich zu machen: Wir sind da in unserem Jüdisch-Sein und wir sind, wie wir sind. Wir sind verschieden und wir sind Teil dieser Vielen. Das ist ja auch eine politische Bewegung der Diversität. In meinen Augen gibt es keinen anderen Weg. Ich kann als Reaktion auf Antisemitismus Papiere schreiben, ich kann Resolutionen verfassen, ich kann meine Empörung kundtun … Aber: ich will sein. Dann ist die Antwort auf Ihre Frage: Sichtbarkeit herstellen als jüdische Menschen, auch im öffentlichen Raum. Ich glaube nicht, dass das ohne Angst geht. Aber wir sind als jüdische Menschen in diesem Behaupten des Seins, in dieser Behauptung, dass der Bürgersteig auch mir gehört, nicht alleine. Und das ist das Großartige. Die Menschen aus den türkisch- oder arabischstämmigen Communities, die auch auf diesem Bürgersteig gehen, sind mit uns. Natürlich gibt es Spannungen, ich bin nicht blind. Aber das müssen wir überwinden und das können wir überwinden.
Esther Dischereit, geboren 1952, ist Lyrikerin, Essayistin, Erzählerin sowie Theater- und Hörstückautorin. Dischereit war von 2012 bis 2013 Beobachterin des NSU-Untersuchungsausschusses des Deutschen Bundestags. Von 2012 bis 2017 lehrte Esther Dischereit als Professorin an der Universität für angewandte Kunst in Wien. Im Oktober 2021 erschien das von ihr herausgegebene Buch „Hab keine Angst, erzähl alles!“ Das Attentat von Halle und die Stimmen der Überlebenden im Herder-Verlag.
Dischereit, Esther (Hg.): Hab keine Angst, erzähl alles! Das Attentat von Halle und die Stimmen der Überlebenden
Herder Verlag, Freiburg 2021
272 Seiten, 20 Euro
ISBN: 978-3-451-39133-0
Foto © Bettina Straub