Im ersten Halbjahr 2022 wurden in Nordrhein-Westfalen 146 antisemitische Straftaten polizeilich erfasst. Zwar ist dies deutlich weniger als noch im ersten Halbjahr des vergangenen Jahres (206), von einer Entwarnung kann jedoch keine Rede sein: Denn ein Blick auf die Fallzahlen über den Zeitraum der letzten fünf Jahre zeugt von einem kontinuierlichen Anstieg antisemitischer Straftaten in Nordrhein-Westfalen – das Jahr 2021 stellte hier also vielmehr ein „Ausnahmejahr“ im negativen Sinne dar.
Die extrem hohe Anzahl antisemitischer Straftaten im ersten Halbjahr 2021 ist insbesondere vor dem Kontext der gewaltvollen Auseinandersetzungen zwischen palästinensischen Terrororganisationen und Israel im Mai 2021 zu verstehen: Letzteres stellte ein ideales „Gelegenheitsfenster“ dar, um antisemitischen Hass auf die Straße zu tragen und auch die Anzahl antisemitischer Straftaten in die Höhe schießen zu lassen. Nicht nur für Strafverfolgungsbehörden, auch für Meldestellen, die antisemitische Vorfälle unterhalb der Strafbarkeitsgrenze erfassen, spiegelte sich der Konflikt im Mai 2021 deutlich in der eigenen Erfassungsstatistik wider. Dass die Zahl antisemitischer Straftaten im ersten Halbjahr 2022 gesunken ist, auch weil es an einem politischen „Anlass“ (wie er 2021 bestand) mangelte, ist also schnell deduziert. Im Vergleich zum ersten Halbjahr 2020 indes stiegen die Zahlen in diesem Jahr um über 40% (von 103 auf 146). Die im ersten Halbjahr 2022 polizeilich erfassten Straftaten mit antisemitischem Hintergrund wurden in 89% der Fälle dem Phänomenbereich „Rechts“ zugeordnet. Dazu gehören auch drei aus antisemitischen Beweggründen begangene Gewalttaten.
Es stellt sich nun die Frage, um welche Straftaten es sich konkret handelt. Dazu finden sich relevante Informationen in der Antwort der Landesregierung auf eine Kleine Anfrage der AfD vom 1. September 2022: Bei etwa der Hälfte der als antisemitisch eingestuften Straftaten handelt es sich um Volksverhetzungsdelikte. Daraufhin folgen Verstöße gegen §86a StGB, der die Verwendung von Kennzeichen verfassungswidriger und terroristischer Organisationen ahndet (16%). Antisemitisch motivierte Sachbeschädigungen stehen mit 12% an dritter Stelle, gefolgt von Beleidigungen, Bedrohungen/Nötigungen und Körperverletzungen.
In Bezug auf die geografische Verortung wurden die meisten antisemitischen Straftaten in der Landeshauptstadt Düsseldorf begangen (16), gefolgt von Köln (8), Essen (7) und Duisburg (6). In Aachen, Dortmund, Wuppertal und Minden wurden jeweils fünf antisemitische Straftaten polizeilich erfasst. Insgesamt wurden von der Polizei in Nordrhein-Westfalen 47 Tatverdächtige ermittelt, wobei alle Altersklassen von 14 bis 79 Jahren vertreten waren. 85% der Tatverdächtigen wurden in der Statistik als „männlich“ erfasst.
Laut Berichten der Generalstaatsanwaltschaften in NRW wurden im ersten Halbjahr 2022 in 520 Fällen Ermittlungsverfahren wegen antisemitischer Straftaten eingeleitet. Diese wurden in 399 Fällen wieder eingestellt. In 73 Fällen wurde öffentliche Anklage erhoben, eine tatsächliche Verurteilung erfolgte hingegen nur in 37 Fällen. Die Differenz zu den polizeilich eingeleiteten Ermittlungsverfahren erklärt sich durch ein anderes Erfassungssystem der Landesjustiz. Es handelt sich um vorläufige Zahlen, da die Erhebung noch nicht abgeschlossen ist und Nachmeldungen zu erwarten sind.
Einschränkend muss an dieser Stelle außerdem erwähnt werden, dass weiterhin von einer hohen Dunkelziffer im Bereich antisemitischer Straftaten auszugehen ist. Insgesamt kann die Analyse der Polizeistatistik jedoch dabei behilflich sein, Entwicklungen im Bereich antisemitischer Straftaten sowie deren strafrechtliche Verfolgung langfristig nachzuvollziehen.
Gemeinsame Analyse der Meldestelle [m²] und RIAS NRW
Foto © Mika Baumeister auf Unsplash